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Abitur unter erschwerten Bedingungen: Trotz Hürden zum Abitur

Wenn jemand nicht gut lesen, schreiben oder rechnen kann, bedeutet das nicht automatisch, dass sie oder er weniger intelligent oder fleißig ist – viel eher kann eine Dyskalkulie oder eine Legasthenie der Grund dafür sein. Junge Menschen mit einer solchen Teilleistungsstörung sind mit entsprechender Unterstützung durchaus in der Lage, Abitur zu machen und zu studieren.

Eine junge Frau sitzt in einem Hörsaal und liest in einem Buch.

Hannah (18) wiederholt gerade – coronabedingt – die zwölfte Klasse. Nächstes Jahr möchte sie Abitur machen. Sie hat schon immer in allen Fächern Einser und Zweier bekommen. Nur der Unterricht in Mathematik war und ist der Horror für die Schülerin. In der Grundschule hatte Hannah beim Rechnen noch Dreier, auf dem Gymnasium folgten jedoch Vierer, Fünfer und leider auch Sechser.

Diagnose Dyskalkulie – ein Schock

Porträtfoto von Hannah. Porträtfoto von Hannah.

Hannah

„Im Alter von 14 Jahren war ich in Mathematik auf dem Niveau eines Grundschülers“, erinnert sie sich. In der neunten Klasse bescheinigte ihr ein Psychologe dann eine Dyskalkulie, also eine angeborene Rechenstörung. Die Diagnose war für Hannah ein echter Schock: „Ich fühlte mich minderwertig und wusste jetzt, ich würde in Mathe nie besser werden.“

Die psychischen Schwierigkeiten, die Hannah durch eine Angststörung ohnehin hat, werden durch die Dyskalkulie noch schlimmer. Deshalb hat sich die Schülerin gegen eine Lerntherapie entschieden. „Wenn ich mich täglich mit meiner Dyskalkulie befassen müsste, könnte ich vielleicht besser rechnen. Aber meiner Psyche würde das nicht guttun“, erklärt sie.

Hannah bekommt deshalb keinen Nachteilsausgleich von der Schule. Aber es gibt durchaus Lehrkräfte, die sie unterstützen. „Ich hatte einmal einen sehr netten Mathelehrer, der sich extra Zeit genommen hat, um mir Förderstunden zu geben. Und es gibt zwei Lehrerinnen, die mit mir Beratungsgespräche führen“, erzählt sie. Ihr Ziel ist es, wenigstens einen einzigen Punkt zu bekommen, denn den braucht sie für ihr Abitur. Dabei hilft es ihr sehr, sich auf das Gute zu konzentrieren: „Wenn ich an einem Tag in Kunst eine Eins und in Mathe eine Sechs geschrieben habe, sage ich mir: Ich werde nie gut rechnen können. Aber immerhin habe ich andere Fähigkeiten.“

„Anders sein“ ist für viele eine Belastung

Mit ihrer Angststörung und der Dyskalkulie hat Hannah auf dem Weg zum Abitur gleich zwei große Hürden zu bewältigen. Doch auch viele andere junge Menschen mit einer Teilleistungsstörung leiden unter geringem Selbstbewusstsein. Annette Höinghaus bietet als Mitarbeiterin des Bundesverbands Legasthenie und Dyskalkulie (BVL) Beratungen an und erklärt: „Viele Betroffene haben in ihrer Schulzeit immer wieder die Erfahrung gemacht, dass ihre Leistungen nicht ausreichen. Deshalb denken viele auch Jahre später noch zu Unrecht, sie seien schlechter qualifiziert. Sie haben beispielsweise große Angst vor Prüfungen oder davor, bei möglichen Stellenkürzungen eher als andere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen den Arbeitsplatz zu verlieren.“

Therapien und Nachteilsausgleiche

Portraitfoto von Annette Höinghaus. Portraitfoto von Annette Höinghaus.

Annette Höinghaus

Annette Höinghaus betont, dass eine Lerntherapie erfolgversprechend ist – auch wenn sie erst im Erwachsenenalter durchgeführt wird. Wenn es um das Abitur, das Studium oder die Ausbildung geht, können Betroffene außerdem von Nachteilsausgleichen und Hilfestellungen profitieren. „Wer weitsichtig ist, trägt als Ausgleich eine Brille. Wer nicht gut hören kann, verwendet ein Hörgerät. Wer Dyskalkulie hat, benutzt im Abitur vielleicht einen Taschenrechner. Und wer eine Legasthenie hat, darf je nach Ausprägung und Schweregrad zum Beispiel statt der schriftlichen eine mündliche Prüfung absolvieren oder einen PC mit Korrekturhilfe nutzen“, erklärt die Expertin. Der Nachteilsausgleich muss die individuelle Beeinträchtigung bestmöglich ausgleichen und stellt keine Vereinfachung der Prüfungsleistung dar. Wichtig sei es, frühzeitig einen entsprechenden Antrag beim Prüfungsausschuss der Hochschule zu stellen. Weitere Anlaufstellen sind die Beratungsstellen des Studentenwerks für Studierende mit Behinderungen, die Behindertenbeauftragten der Hochschulen und der Prüfungsausschuss der zuständigen Handwerks- beziehungsweise Industrie- und Handelskammer.

Entscheidend ist, dass die Betroffenen sich deutlich machen, welche Art von Nachteilsausgleich ihnen im Ausbildungs- und Studienalltag sowie bei Prüfungen helfen würde – denn das kann individuell ganz unterschiedlich sein. „Wenn du unter Prüfungsängsten leidest, kannst du dich zum Beispiel von einer vertrauten Person begleiten lassen oder die Prüfung in einer Gruppe ablegen“, betont Annette Höinghaus. Die Expertin empfiehlt betroffenen Abiturientinnen und Abiturienten darüber hinaus, ihre Teilleistungsschwäche so früh wie möglich medizinisch diagnostizieren zu lassen, damit sie ihren Rechtsanspruch auf Nachteilsausgleich wirklich durchsetzen können.

Weitere Informationen

Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e.V.

bvl-legasthenie.de

Bundesinstitut für Berufsbildung (bibb):
Nachteilsausgleich für behinderte Auszubildende

Handbuch für die Ausbildungs- und Prüfungspraxis
bibb.de/veroeffentlichungen/de/publication/show/7407

Stiftung Deutsche Depressionshilfe

deutsche-depressionshilfe.de

Fighting depression online (FIDEO)

Fideo ist ein Online-Selbsthilfetool, dass jungen Menschen mit Depressionen hilft.

fideo.de

Informations- und Beratungsstelle Studium und Behinderung (IBS)

studentenwerke.de/behinderung

Beratung für Studierende mit Behinderungen

studentenwerke.de/de/content/beratung

Handbuch „Studium und Behinderung“

studentenwerke.de/de/content/handbuch-studium-und-behinderung

Robert Koch-Institut

Befragung zum seelischen Wohlbefinden und Verhalten (BELLA)
www.rki.de
www.uke.de

[U25] Online-Beratungsangebot für Jugendliche

u25-deutschland.de/

Vortrag von Martha Wiencke „How I live with depression“

youtube.com/watch?v=mKlga_U3pmI&t=484s