Andrea Kurtenacker
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Wer die eigenen Stärken kennt, tut sich leichter, den richtigen Beruf zu finden. Doch wie soll das gehen, wenn viele in mir nur meine Schwächen sehen? Genau diese Frage treibt viele Abiturientinnen und Abiturienten mit Behinderungen um. abi» hat sich umgehört, Erfolgsgeschichten aufgespürt und Ansätze gefunden, wie eine selbstbestimmte Berufswahl gelingen kann.
Bei der Orientierung unterstützen Organisationen (siehe Überblick „Schritt für Schritt zum Berufswunsch“) oder Initiativen, die eine ergänzende unabhängige Teilhabeberatung (EUTB) anbieten, sowie die Teams Berufliche Rehabilitation und Teilhabe der Agenturen für Arbeit vor Ort. Sie arbeiten mit Integrationsfachdiensten und Berufsbildungswerken zusammen und sind für Menschen mit Behinderungen erste Anlaufstelle bei der beruflichen Orientierung.
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„Welche Tätigkeiten faszinieren mich, was interessiert mich, wo liegen meine Stärken, wo will ich hin? Diese Fragen stehen zunächst im Fokus unserer Beratung“, sagt Lara Ballier vom Reha-Team der Agentur für Arbeit Kassel. „Uns ist wichtig, dass ein junger Mensch den Beruf findet, der zu ihm passt, der ihm lange Freude macht und in dem es ihm mit seiner Einschränkung gut geht.“
Andrea Kurtenacker von REHADAT-Bildung begrüßt diesen Ansatz. Das Portal des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW) richtet sich an junge Menschen mit Behinderungen in der Berufsorientierungsphase. „Die Wünsche und Träume mit den eigenen Potenzialen und Talenten abgleichen, dann erst die Defizite unter die Lupe nehmen und rausfinden, mit welchen Hilfen sich diese überbrücken lassen“, lautet ihre Empfehlung.
Andrea Hellbusch, Studienberaterin im Bereich Behinderung und Studium des Zentrums für Hochschulbildung an der TU Dortmund sagt: „Die Beeinträchtigung sollte die Wahl des Studiengangs nicht dominieren. Die Inhalte des Studiums und die Interessen des Einzelnen sind das Entscheidende.“ Laut Forschungsbericht „beeinträchtigt studieren – best2“ des Deutschen Studentenwerks gaben 19 Prozent der Studierenden mit Beeinträchtigung an, dass diese die Studienwahl stark beeinflusst habe. Unter ihnen gaben etwa genauso viele an, jetzt nicht im Wunschstudiengang zu studieren. Als Gründe werden vor allem die eingeschränkte Studierbarkeit des Wunschfachs, schlechte Berufsaussichten in Zusammenhang mit der Beeinträchtigung und das Abraten des eigenen sozialen Umfelds angegeben.
Leider gibt es große Unterschiede an den Hochschulen. Jens Kaffenberger, Leiter der Informations- und Beratungsstelle Studium und Behinderung (IBS) des Deutschen Studentenwerks, weist darauf hin, dass Hochschulen dazu verpflichtet sind, mögliche Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Dies ist im Hochschulrahmengesetz und in den Landeshochschulgesetzen verankert.
Ansprechpartner und Wegbereiter dafür sind Inklusionsbeauftragte oder Studienberater*innen wie Andrea Hellbusch. „Bei uns geht es längst nicht mehr nur um die Einzelberatung, wir arbeiten an Strukturen, um chancengerechtere Studienbedingungen zu schaffen“, erläutert sie und nennt als Beispiel das Mentoring-Programm für Studieninteressierte und Erstsemester (siehe Reportage „Von der Förderschule direkt ins Studium“). Wer sich informieren möchte, wie barrierefrei die Wunschhochschule ist, findet die Kontaktdaten der Beauftragten zu Studium und Behinderung auf der Seite des Deutschen Studentenwerks.
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Jens Kaffenberger empfiehlt bei aller Unterstützung im Studium, die späteren beruflichen Anforderungen bei der Studienwahl bereits mitzubedenken. Infos dazu finden Abiturientinnen und Abiturienten mit Behinderungen in Studienordnungen, bei der Berufsberatung und in den Reha-Teams der Agenturen für Arbeit sowie mithilfe von Testverfahren wie dem Selbsterkundungstool Check-U oder auf Bildungs- und Reha-Messen (siehe Übersicht „Schritt für Schritt zum Berufswunsch“). Vielversprechend seien Peer-to-Peer-Projekte, bei denen Berufserfahrene mit einer bestimmten Behinderung anderen Betroffenen berichten, wie ihr Alltag aussieht, sagt Studienberaterin Andrea Hellbusch. Für Berufseinsteiger*innen mit Behinderungen empfiehlt sie das IXNET-Projekt. Ergänzend gibt es für Menschen mit Hör- oder Sehbehinderung ergänzend barrierefreie Berufsinfoportale wie die des Kompetenzzentrums für Gebärdensprache und Gestik.
Sowieso findet es Reha-Beraterin Lara Ballier wichtig, erstmal alle Möglichkeiten auf dem Schirm zu behalten. Von pauschalen Empfehlungen für oder gegen eine Tätigkeit bei einer bestimmten Einschränkung hält sie nichts. „Es ist sehr viel möglich heutzutage. Das muss man immer individuell betrachten“, sagt sie und erläutert, dass die Bundesagentur für Arbeit über die sogenannten Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben im Fall der Fälle technische Hilfsmittel oder eine Arbeitsassistenz finanziert. Deshalb rät sie dazu, sich immer zuerst an das Reha-Team der Agentur für Arbeit vor Ort zu wenden.
„Bei solch komplexen Fragestellungen hilft nur individuelle, intensive Beratung“, betont sie und klärt darüber auf, dass das Reha-Team nur dann ins Spiel kommt, wenn zusätzliche Unterstützung gebraucht und gewünscht ist. „Falls erforderlich bieten wir an, auch unsere Fachdienste einzuschalten, um abzuklären, welche Unterstützungsbedarfe bestehen. Die Ärztinnen und Ärzte sind Arbeitsmediziner und kennen die Berufsbilder und Anforderungen sehr gut“, sagt sie. „Oder wir ziehen ggf. auch den Berufspsychologischen Service oder den Technischen Beratungsdienst hinzu.“
Zudem rät die Reha-Beraterin, Ausbildungen in Berufsbildungswerken nicht ganz auszuklammern. „Ich weiß, dass es Berührungsängste bezüglich Ausbildungen in Berufsbildungswerken gibt. Diese sind aber unbegründet. Berufsbildungswerke bilden auf einem hohen Niveau aus“, sagt sie. Andrea Kurtenacker von REHADAT gibt ihr Recht: „Die Ausbildungen dort haben in der Wirtschaft einen sehr guten Ruf“, schildert sie. Fast alle kooperierten während der Ausbildung mit Betrieben auf dem ersten, also dem regulären Arbeitsmarkt. Zudem seien sie zum Beispiel auf Sehbehinderungen, Autismus, Hörbeeinträchtigung oder auch psychische Beeinträchtigungen spezialisiert.
Andrea Kurtenacker legt in diesem Zusammenhang ein Praktikum ans Herz. „Schon während der Schulzeit anfragen und sich bewerben. Immer mehr Betriebe sind aufgeschlossen, Menschen mit Behinderungen auszubilden. Die Sensibilität wächst und gerade Betriebe, die bereits Erfahrung mit der Ausbildung von Menschen mit Behinderungen gemacht haben, können sich dies gut vorstellen“, macht sie Mut. Zudem weist sie auf die Möglichkeit eines Freiwilligen Jahres hin, zum Beispiel über den Verein Behinderung und Entwicklungszusammenarbeit (Bezev) (siehe Übersicht „Schritt für Schritt zum Berufswunsch“).
Wer sich übrigens noch nicht sicher ist, ob eine Ausbildung oder ein Studium das Richtige ist, sollte sich vorab gut informieren. Die Finanzierung von technischen Hilfen oder Assistenzen erfolgt nur unter bestimmten Voraussetzungen. Reha-Beraterin Lara Ballier betont: „Es gibt vieles, was Abiturienten mit Behinderungen beim Übergang ins Berufsleben bedenken und abwägen müssen. Jeder kann, darf und soll sich die Zeit nehmen, die er braucht. Eine Deadline für unsere Leistungen, die jedem für eine Erstausbildung zustehen, gibt es nicht.“ Sie appelliert: „Kommt vorbei und hört euch an, welche Möglichkeiten es gibt. Wir haben den Überblick.“
Berufskundliches Portal für über 3000 Berufe mit Informationen zu den Themen Studium, Aus- und Weiterbildung sowie Tätigkeit.
berufenet.arbeitsagentur.de
Infoportal der Stiftung für Hochschulzulassung in Kooperation mit der Bundesagentur für Arbeit mit Informationen rund ums Studium.
studienwahl.de
Hier sind die Beratungs- und Unterstützungsangebote der Bundesagentur für Arbeit für Menschen mit Behinderungen zusammengefasst:
arbeitsagentur.de/menschen-mit-behinderungen
arbeitsagentur.de/bildung/studium/studieren-mit-behinderungen
Portal des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln mit Informationen zur Berufsfindung und Qualifizierung junger Menschen mit Förderbedarf - mit zahlreichen Informationen von der Berufsorientierung, Unterstützungsmöglichkeiten bis hin zur Berufsausbildung von Menschen mit Behinderungen.
rehadat-bildung.de
Mit ihrer Initiative „Inklusion gelingt!“ möchten die Spitzenverbände der Wirtschaft erwirken, dass mehr Menschen mit Behinderungen auf dem ersten Arbeitsmarkt ausgebildet oder beschäftigt werden. Auf der Webseite findet sich auch eine gute Übersicht der Ausbildungsmöglichkeiten.
inklusion-gelingt.de
Seite der Stiftung MyHandicap mit Jobbörse und Tipps zu Bewerbung und Förderung der Ausbildung
https://www.enableme.de
Portal des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales
einfach-teilhaben.de
Sie unterstützt und berät Menschen mit Behinderungen, von Behinderung bedrohte Menschen, aber auch deren Angehörige unentgeltlich bundesweit zu Fragen der Rehabilitation und Teilhabe.
Stand: 18.02.2022
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