zum Inhalt

Abitur unter erschwerten Bedingungen – Depression: Plötzlich so traurig

Ohne eine riesige Portion Glück hätte Martha Wiencke ihr Abitur wohl nicht geschafft. Denn die 25-Jährige war schon als Jugendliche depressiv – und bekam erst spät die Hilfe, die sie brauchte.

Junger Therapeut spielt mit einer Jugendlichen ein Brettspiel.

Eine gute Schülerin und begeisterte Leistungssportlerin – das zeichnete Martha Wiencke in der Schule aus. Doch dann, in der zehnten Klasse, bemerkte sie plötzlich, dass sie kein Interesse mehr an den Dingen hatte, die ihr vorher Spaß gemacht hatten. Zudem gab es zunehmend Schwierigkeiten mit Mitschülerinnen und Mitschülern. Im Unterricht war sie abgelenkt, das Training fand sie anstrengend, Wettkämpfe erlebte sie jetzt als Belastung. Oft hätte sie gerne einfach nur geheult, aber sie erlaubte sich nicht, Schwäche zu zeigen. Darüber hinaus entwickelte sie soziale Ängste: Es fiel ihr sehr schwer, mit Menschen in Kontakt zu treten. Vor allem in der Schule litt sie darunter, permanent mit Anderen sprechen zu müssen.

Stumm vor Scham

Ein Jahr lang sprach Martha Wiencke mit niemandem darüber, wie schlecht es ihr ging: „Vorher war mir alles immer so leichtgefallen. Ich wollte mir selbst nicht und anderen noch weniger eingestehen, dass ich Schwierigkeiten hatte“, erinnert sich die 25-Jährige. Doch irgendwann wurde der Leidensdruck so groß, dass die Schülerin ihren Eltern von ihren Gefühlen erzählte, dann auch der Sozialpädagogin an ihrer Schule und schließlich einer Therapeutin, die ihr nach einer umfangreichen Diagnostik eine Depression attestierte, aber aus Kapazitätsgründen keinen Therapieplatz anbieten konnte. Die Probleme und die Scham blieben also. Wenn Mitschüler*innen sie fragten, wie es ihr geht, erzählte Martha Wiencke nichts. „Das hätte für mich ein persönliches Versagen bedeutet, denn ich habe mir selbst die Schuld für die Probleme gegeben“, sagt sie.

Es sollte noch mehrere Jahre dauern, bis Martha Wiencke die Hilfe bekam, die sie brauchte. Jeden Morgen musste sie mit sich kämpfen, um überhaupt zur Schule zu gehen. Aber ihr Pflichtbewusstsein siegte. Wann immer es möglich war, zog sie sich dann aber zurück. „Die Pausen verbrachte ich oft mit einem Buch in der Hand in der Bibliothek, obwohl ich mich gar nicht aufs Lesen konzentrieren konnte. Denn da war es wenigstens ruhig und mich störte keiner“, erzählt die junge Frau.

Sie nahm nicht an Abipartys teil, beteiligte sich nicht mehr im Unterricht, machte keine Hausaufgaben, bereitete sich auch nicht auf Prüfungen vor. Dass sie das Abitur trotzdem bestand, kann sie sich selbst nur mit großem Glück erklären: „Ich musste nie viel für die Schule tun, weil mir alles leichtfiel. Und die Lehrkräfte gaben mir lange Zeit auch im Mündlichen noch gute Noten, obwohl ich mich nicht mehr am Unterricht beteiligte. Die schriftlichen Abiturprüfungen in Deutsch und Englisch schrieb ich, ohne überhaupt die Literatur gelesen zu haben“, gibt sie zu.

Besser spät als nie

Besser geht es Martha Wiencke erst, seitdem sie vor drei Jahren ihr Studium unterbrach, um sich zunächst zwei Monate lang in einer Klinik und anschließend mehrere Monate lang in verschiedenen Reha-Programmen mit sich und ihrer Erkrankung zu beschäftigen. Denn in der stationären Einrichtung lernte sie durch andere Betroffene, sich selbst so anzunehmen, wie sie ist. Sie erzählt von einem Schlüsselerlebnis: „Als ein Mann dort beim Essen anfing zu weinen, weil ihm eine Gabel heruntergefallen war, sagte niemand ‚Was ist denn los? Hör doch auf zu weinen!‘ Denn alle kannten dieses Gefühl, dass das emotionale Fass grundsätzlich randvoll ist und dass nur eine Kleinigkeit passieren muss, um es überlaufen zu lassen.“

Martha Wiencke hat ihr Studium inzwischen abgebrochen und eine Ausbildung zur Maßschneiderin absolviert. Sie arbeitet zurzeit im Einzelhandel. Manchmal kommt es immer noch vor, dass sie – als ein sehr emotionaler Mensch – in einem Streit urplötzlich anfängt zu weinen. Sie findet es wichtig, ihre eigene Emotionalität zu respektieren und weiß jetzt, damit umzugehen – dank der professionellen Unterstützung, die sie – leider erst spät – in Anspruch genommen hat.