Foto: Sven Serkis, Berlin
Die Rechtsanwältin und Notarin Edith Kindermann ist Präsidentin des Deutschen Anwaltvereins.
Die Rechtsanwältin und Notarin Edith Kindermann, Präsidentin des Deutschen Anwaltvereins, erklärt, warum das sogenannte „Legal Tech“ aus dem IT-Bereich Anwältinnen und Anwälte nicht ersetzt und warum neben Paragrafen auch Bauchgefühl für Juristinnen und Juristen wichtig ist.
abi» Frau Kindermann, wie hat sich der Arbeitsmarkt für Juristinnen und Juristen über die Jahre entwickelt?
Edith Kindermann: In den vergangenen zehn Jahren sind die Absolventinnen- und Absolventenzahlen stark rückläufig gewesen. Heute wird um den Nachwuchs gerungen. Das betrifft Unternehmen, Behörden, Kanzleien und Justiz gleichermaßen. Beispiel Mecklenburg-Vorpommern: Hier werden bis 2031 mehr als die Hälfte der Richterinnen und Richter sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in den Ruhestand gehen, aber an der Universität Greifswald legen nur rund 60 Menschen pro Jahr ihr Examen ab. Der Bedarf kann gar nicht gedeckt werden. Die Situation ist in anderen Bundesländern ähnlich.
abi» Erheblich zugenommen hat der Anteil an Bachelor- sowie Masterabsolventinnen und Masterabsolventen, die Rechtswissenschaften studiert haben – etwa Wirtschaftsrecht. Gilt Ihre Einschätzung auch für diese Gruppe?
Edith Kindermann: Da bin ich zurückhaltend. Diese Absolventinnen und Absolventen haben keine volljuristische Ausbildung, sondern sind auf Teilbereiche spezialisiert. Ohne Zweites Staatsexamen können sie nicht als Rechtsanwältin oder -anwalt, Staatsanwältin oder Staatsanwalt oder Richterin beziehungsweise Richter tätig werden. Sie sind aber sicherlich in Kanzleien gefragt, mit Fokus auf beispielsweise Wettbewerbsrecht, Vertragsgestaltung, Vertrags- und Produkthaftung sowie Steuer- und Insolvenzrecht.
abi» Verändert die Digitalisierung das Berufsbild?
Edith Kindermann: Bestimmte Tätigkeiten, wie die Verarbeitung großer Datenmengen und Datenbanken, werden sicher zunehmend technisch abgewickelt. Aber dass eine Form der Künstlichen Intelligenz anwaltliche Tätigkeiten ersetzt (sogenanntes „Legal Tech“), sehe ich nicht. Die Entscheidungsfindung ist viel zu komplex, als dass man sie in technischen Modellen darstellen könnte. Bei einfachen Sachverhalten mit einer einfachen Lösung mag das möglich sein, aber das sind begrenzte Bereiche und betrifft nicht die Breite der Fälle.
abi» Wie können Juristinnen und Juristen sich spezialisieren?
Edith Kindermann: Universitäten können den Studierenden die juristische Methodenlehre an die Hand geben, aber niemals die gesamte Bandbreite der juristischen Realität widerspiegeln. Die Möglichkeiten sind so vielfältig. Juristinnen und Juristen können nicht nur in unterschiedlichen Branchen tätig sein, sondern sich auch für ganz unterschiedliche Arbeitsstile entscheiden: Sie können zum Beispiel für sich arbeiten und Gutachten schreiben oder sich wissenschaftlich hochkomplexen Fragen widmen. Andererseits können sie ganz nah an der Lebensrealität dran sein und Menschen vertreten, die in einen Verkehrsunfall verwickelt sind oder sich scheiden lassen. Beim Berufseinstieg sollten Absolventinnen und Absolventen offen für unterschiedliche Rechtsgebiete sein – auch für solche, denen sie in der Universität nicht begegnet sind, die aber in der Berufspraxis zum Tagesgeschäft gehören. Das Referendariat und auch die Pflichtpraktika bieten diverse Möglichkeiten, den juristischen Alltag kennenzulernen. Hier bedarf es Bauchgefühl, um herauszufinden, was einem liegt. Eine Weiterbildung zur Fachanwältin oder zum Fachanwalt kann man dann immer noch anstreben.
Foto: Sven Serkis, Berlin
Die Rechtsanwältin und Notarin Edith Kindermann ist Präsidentin des Deutschen Anwaltvereins.
Stand: 14.08.2024
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