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Klischeefrei orientieren: Orientierung ohne Vorurteile

Mädchen wählen häufiger Ausbildungsberufe oder Studienfelder im sozialen, künstlerischen und sprachlichen Bereich. Bei Jungen stehen Technik, Informatik, Naturwissenschaften oder handwerkliche Tätigkeiten im Fokus. Denn immer noch spielen bei der Berufswahl auch geschlechterspezifische Zuschreibungen eine Rolle. abi» zeigt dir, wie du dich jenseits von Klischees beruflich orientieren kannst.

Ein junger Mann und eine junge Frau stehen in einer Aula und gestikulieren.

Was mache ich gerne? Was kann ich gut? Bei Jeffrey Hernandez führte die Antwort auf diese Fragen zur Ausbildung zum Medizinischen Fachangestellten (MFA): Nicht „typisch Mann“, aber „sein Ding“. In der Lungenpraxis München hat der Auszubildende im zweiten Lehrjahr vielfältige Aufgaben. Anmeldung, Lungenfunktionstest, Backoffice und Blutgasanalyse: Der 22-Jährige ist nah an den Patientinnen und Patienten im Einsatz. „Mir macht die Arbeit mit Menschen großen Spaß“, fasst er zusammen. „Sich beispielsweise bei einem Lungenfunktionstest zu unterhalten und etwas über die Geschichte der Einzelnen zu hören, ist einfach schön.“

  • Ein Foto von Jeffrey H.

    Am Anfang hatte ich schon Bedenken, ob ich als männlicher Medizinischer Fachangestellter nicht ausgegrenzt werde. Das hat sich aber nicht bestätigt.

    Jeffrey Hernandez

Den Neigungen folgen

Dabei hatte der Münchner ursprünglich andere Pläne. Nach dem Schulabschluss wollte er sich beruflich eigentlich in Richtung Wirtschaft orientieren. „Meine Freunde haben mich dann glücklicherweise bestärkt, dass mir gesundheitliche Themen und besonders der Kontakt zu Menschen wesentlich mehr liegen“, erzählt er. „Am Anfang hatte ich schon Bedenken, ob ich als männlicher Medizinischer Fachangestellter nicht ausgegrenzt werde. Das hat sich aber nicht bestätigt.“

Bei einem Männeranteil von rund drei Prozent ist Jeffrey Hernandez tatsächlich noch eine Ausnahme in seinem Beruf. „In der Berufsschule merkt man aber, dass es langsam mehr Männer werden“, berichtet er. In der Lungenpraxis München ist der Auszubildende einer von drei männlichen MFAs im Team. „Damit die Praxis läuft, braucht es gute Zusammenarbeit“, weiß Jeffrey Hernandez. „Da sind Männer genauso gefragt wie Frauen.“

Die eigenen Vorlieben und Stärken kennen

Welche Faktoren für die Berufswahl bei Jugendlichen eine Rolle spielen, weiß Siegfried Walther, Berufsberater der Agentur für Arbeit Braunschweig-Goslar: „Die Interessen und Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler sollten eigentlich die wichtigsten Punkte bei der beruflichen Entscheidung sein. Natürlich sind auch die Verdienstmöglichkeiten oder die Chancen auf dem Arbeitsmarkt relevante Kriterien. In der Praxis sieht man aber häufig, dass andere Faktoren den Berufswunsch prägen: das Prestige der Berufe und das Erfüllen von geschlechtlichen Rollenbildern. Das läuft oft unbewusst, doch dadurch schränken Jugendliche ihre Auswahlmöglichkeiten stark ein.“

Auch Tabea Schroer ist sich sicher, dass bei der Berufswahl unterbewusste Faktoren großen Einfluss haben. Sie ist Projektkoordinatorin Girls’Day und Boys’Day beim Kompetenzzentrum Technik-Diversity-Chancengleichheit e.V. „Bei der Entscheidung für den späteren Beruf sind zwei unbewusste Faktoren besonders zu beachten. Das ist zum einen die soziale Herkunft und zum anderen die Geschlechterfrage“, erklärt sie. „Es gibt eine gesellschaftlich geteilte Vorstellung, wie Frauen und Männer angeblich sind oder sein sollen. Frauen gelten demnach als hilfsbereit und empathisch, weshalb ihnen Berufe aus der Erziehung, dem gesundheitlichen oder sozialen Bereich zugeschrieben werden. Männer sind angeblich stark, rational und technikbegeistert. Vermeintlich gehören sie deshalb in die sogenannten MINT-Berufe.“ MINT steht als Sammelbegriff für die Fächer Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik.

  • Ein Foto von Siegfried W.

    Die Interessen und Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler sollten eigentlich die wichtigsten Punkte bei der beruflichen Entscheidung sein.

    Siegfried Walther

Außerhalb von Geschlechterrollen denken

Dass diese Klischees eine Rolle spielen, zeigen die Zahlen des Statistischen Bundesamtes zur aktuellen Berufswahl: Bei den fünf am stärksten besetzten dualen Ausbildungen 2021 ist die Diskrepanz zwischen den Geschlechtern deutlich zu sehen. So war der Ausbildungsberuf Kraftfahrzeugmechatroniker/in insgesamt zwar am beliebtesten, unter den Auszubildenden befanden sich jedoch nur rund vier Prozent Frauen. Beim Ausbildungsberuf Kaufmann/-frau für Büromanagement (Platz 2) beläuft sich hingegen der Männeranteil auf nur 28 Prozent. Beim Beruf Fachinformatiker/in (Platz 4) sind wiederum nur acht Prozent Frauen vertreten und beim fünften Platz Medizinische/r Fachangestellte/r sind es nur drei Prozent Männer. Nahezu ausgeglichen war das Verhältnis beim Ausbildungsberuf Kaufmann/-frau im Einzelhandel (Platz 3). Hier liegt der Anteil der Frauen bei rund 48 Prozent.

Die meisten Studienanfängerinnen und Studienanfänger entschieden sich im Wintersemester 2021/22 für das Fach Betriebswirtschaftslehre. Hier ist das Geschlechterverhältnis nahezu ausgeglichen. Anders sieht es mit den nachfolgenden Plätzen aus. Im Fach Informatik (Platz 2) beträgt der Frauenanteil nur 19 Prozent. Für Rechtswissenschaften (Platz 3) entschieden sich hingegen weniger Männer (37 Prozent). Für Psychologie (Platz 4) schrieben sich nur 21 Prozent Männer ein, für Soziale Arbeit 20 Prozent.

Siegfried Walther erlebt an den Schulen, dass Stärken und Vorlieben nichts mit dem Geschlecht zu tun haben: „Ich sehe in der Berufsberatung oft Mädchen mit sehr guten Noten in Naturwissenschaften oder Mathematik, die sich nicht trauen, auch beruflich in diese Richtung zu gehen. Dabei wären sie bestimmt hervorragend in diesem Bereich. Wichtig ist, sich bewusst zu werden, dass es diese Klischees gibt und man sie auch hinterfragen kann.“

Die Rollenbilder nehmen wir von Geburt an in uns auf. „Das beginnt schon bei der Auswahl des Spielzeugs für Kinder. Nach der Werbung spielen Jungs mehr mit Autos und Mädchen mit Puppen“, erklärt Tabea Schroer. „Bei der Berufs- oder Studienwahl haben die Eltern den größten Einfluss auf die Kinder. Danach kommt das soziale Umfeld, die Schule und die Berufsberatung. Um die klischeefreie Berufsberatung möglich zu machen, ist ein breites gesellschaftliches Umdenken nötig.“

Orientierungsangebote nutzen

Für die berufliche Orientierung jenseits von geschlechterspezifischen Vorurteilen gibt es deshalb eine Vielzahl von Hilfsangeboten und Möglichkeiten zum Ausprobieren. „Wenn jemand noch gar nicht weiß, in welche Richtung es später beruflich gehen soll, empfehle ich Check-U der Bundesagentur für Arbeit“, sagt Siegfried Walther. „In diesem Selbsterkundungstest findet man viel über die eigenen Stärken und Interessen heraus und weiß dann, welche Ausbildungen oder Studienfelder dazu passen. Außerdem ist eine Studien- oder Berufsberatung bei einer Arbeitsagentur oder an einer Hochschule immer hilfreich. Wenn man sich unsicher ist, ob eine Studien- oder Berufsrichtung zu einem passt, sollte man sich außerdem in der Praxis ausprobieren. In einem Praktikum merkt man meist schnell, was einem Spaß macht.“

Neben Berufsmessen, MINT-Angeboten für Mädchen und Orientierungsangeboten von Hochschulen gibt es jährlich im April einen Girls’Day und einen Boys’Day. „An diesem Tag können Mädchen und Jungen Berufe kennenlernen, die nicht typisch für ihr Geschlecht sind“, berichtet Tabea Schroer. „Das sind die Berufsgruppen, bei denen Frauen oder Männer mit weniger als 40 Prozent unterrepräsentiert sind. Mädchen schauen sich dabei oftmals im MINT-Bereich und im Handwerk um, Jungen in der Pflege und Erziehung. Sie können dabei Vorbilder ihres Geschlechts sehen, die den Beruf ausüben, und merken: Ich kann das auch!“ Die Personen im Hintergrund, wie Eltern, Lehrkräfte und Erziehungspersonen oder die Berufsberatung, versorgt die Initiative Klischeefrei mit Material zur vorurteilsfreien Unterstützung der Berufswahl.

  • Ein Foto von Tabea Schroer

    Es gibt eine gesellschaftlich geteilte Vorstellung, wie Frauen und Männer angeblich sind oder sein sollen.

    Tabea Schroer

MINT wird weiblicher, Soziales männlicher

„Unsere Statistiken zeigen, dass die starren Geschlechterrollen in einigen Bereichen aufbrechen“, sagt die Expertin vom Kompetenzzentrum Technik-Diversity-Chancengleichheit e.V. Im MINT-Bereich ist der Frauenanteil im Studium von rund 28 Prozent im Jahr 2011 auf rund 32 Prozent im Jahr 2021 gestiegen. Vor allem in der Mathematik und den Naturwissenschaften gab es einen Zuwachs. Hier ist der Anteil in den zehn Jahren um 13 Prozent gewachsen, sodass Frauen im Jahr 2021 sogar 50 Prozent ausgemacht haben. Außerdem haben rund fünf Prozent mehr Frauen Informatik und knapp vier Prozent mehr Bauingenieurwesen studiert. Dagegen ist bei den Männern der Ausbildungsmarkt hervorzuheben: Haben im Jahr 2009 noch zwölf Prozent der Männer einen Ausbildungsvertrag im Sozial- und Gesundheitsbereich unterschrieben, waren es 2019 schon 16 Prozent.

Mit seiner beruflichen Entscheidung ist Jeffrey Hernandez trotz anfänglicher Bedenken glücklich: „Ich möchte meine Ausbildung abschließen und anschließend im Gesundheitsbereich bleiben. Als Medizinischer Fachangestellter kann ich in jeder beliebigen Praxis arbeiten. Vielleicht mache ich hinterher noch eine Ausbildung zum Anästhesietechnischen Assistenten.“

Weitere Informationen

BERUFENET

Das Netzwerk für Berufe der Bundesagentur für Arbeit mit über 3.000 aktuellen Berufsbeschreibungen in Text und Bild

berufenet.arbeitsagentur.de

BERUFE.TV

Filmportal der Bundesagentur für Arbeit über Studiengänge und Ausbildungsberufe
berufe.tv

studienwahl.de

Infoportal der Stiftung für Hochschulzulassung in Kooperation mit der Bundesagentur für Arbeit mit Informationen rund ums Studium
studienwahl.de

Studiensuche der Bundesagentur für Arbeit

Vielfältige Auswahl an Studienorten und Studienfächern
www.arbeitsagentur.de/studiensuche

Kompetenzzentrum Technik-Diversity-Chancengleichheit e.V.

Bundesweites Netzwerk zu den Themen Technik, Diversität und Chancengleichheit
www.kompetenzz.de

Klischee-frei.de

www.klischee-frei.de

Girls’Day

www.girls-day.de

Boys’Day

www.boys-day.de