Lehrerin an Förderschulen:
„Jeder Schüler profitiert von Inklusion“
Reina Bohle arbeitet als Lehrerin für Sonderpädagogik an einer Berliner Gemeinschaftsschule. Aufgrund des unterschiedlichen Förderbedarfs ihrer Schülerinnen und Schüler kann es sein, dass sie für ein Thema bis zu sieben Unterrichtsangebote vorbereiten muss.
Jan ist sehbehindert, deswegen muss die Schrift auf seinen Arbeitsblättern größer sein. Svea hat eine Lernschwäche – für sie müssen die Aufgaben leichter sein. Da Noahs Sprachentwicklung verzögert ist, kann er das Referat nicht halten und benötigt eine andere Aufgabe. Yamira und Fabian haben Probleme, sich zu konzentrieren und müssen immer wieder dazu motiviert werden, bei der Sache zu bleiben.
So könnten Reina Bohles Überlegungen für eine Unterrichtsstunde aussehen. Es sind fiktive Beispiele, die verdeutlichen, wie differenziert die Lehrerin für Sonderpädagogik und ihre Kollegen an der Friedenauer Gemeinschaftsschule in Berlin nicht nur Wissen vermitteln, sondern vor allem individuell fördern. 2019 erhielt die Schule den Jakob-Muth-Preis für beispielhafte Umsetzung inklusiver Bildung.
Sechs der 24 Kinder in Reina Bohles Klasse haben einen Förderbedarf im Bereich Lernen, Sprache, Sehen und/oder emotionale und soziale Entwicklung. Sie befinden sich in der 7., 8. oder 9. Klasse, da die drei Jahrgänge gemeinsam unterrichtet werden. „Da kommt es vor, dass man zu einem Thema sieben Unterrichtsangebote macht“, erklärt die 35-Jährige: Für die einzelnen Jahrgänge, für die Kinder, die ihrem Bedarf angepasste Materialien benötigen und für jene, die andere Lernziele verfolgen als ihre gleichaltrigen Mitschüler. Besonders effektiv sei der inklusive Unterricht dann, wenn er „doppelgesteckt“ sei. Das bedeutet, dass zwei Lehrkräfte die Klasse betreuen – die Fach- und eine Lehrkraft für Sonderpädagogik, die sich besonders den Schülern mit Förderbedarf widmet, aber auch allen anderen zur Seite steht, die gerade zusätzliche Unterstützung benötigen. Drei Mal in der Woche betreut Reina Bohle zudem Lerngruppen, in denen Schülerinnen und Schüler mit Förderstatus aus allen Klassen zusammenkommen. „So kann ich die Kinder intensiv fördern. Zudem lerne ich sie besser kennen und kann eine engere Beziehung zu ihnen aufbauen.“ Das ist auch wichtig für die Förderpläne, die sie für jeden einzeln erstellt.
Seit einem Praktikum in der neunten Klasse in einem Wohnheim für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung stand Reina Bohles Berufswunsch fest. Nach dem Erwerb der Fachhochschulreife studierte sie Soziale Arbeit. Mit dem Bachelor erwarb sie zugleich die allgemeine Hochschulreife und studierte an der Berliner Humboldt-Uni Rehabilitationspädagogik mit den Förderschwerpunkten geistige Entwicklung und Lernen sowie dem Fach Geschichte. Nebenbei arbeitete sie als Einzelfallhelferin für ein Mädchen mit Trisomie 21, das jene Regelschule besuchte, an der sie später auch ihr Referendariat machte. Und beispielsweise die Herausforderung meisterte, der Klasse die historischen Hintergründe des Zweiten Weltkriegs zu vermitteln und der geistig behinderten Mitschülerin niederschwellig einen Eindruck davon zu vermitteln, was Krieg und Frieden überhaupt ist. Etwa, indem sie ihr Fotos von zerstörten und wiederaufgebauten Häusern zeigte – die wiederum die anderen Schüler ebenfalls beeindruckten.
„Ich sehe jeden Tag, wie jeder Schüler von der Inklusion profitiert“, sagt Reina Bohle. Durch die „Doppelsteckung“, durch Materialien, die andere Lernkanäle ansprechen, durch die Heterogenität der Klasse, die die Vielfältigkeit der Gesellschaft widerspiegelt. Für die Zukunft wünscht sie sich bessere Lehrbedingungen – mehr Personal, weniger verpflichtende Unterrichtsstunden, um das Förderangebot intensiver vorbereiten zu können und (digitale) Hilfsmittel. Tablets etwa würden die Arbeit erleichtern: Sie ermöglichen eine unkomplizierte Schriftvergrößerung für Sehbehinderte oder das Abspielen von Lernvideos. Und auch dabei gelte: „Solche Investitionen kämen allen Schülern zugute.“
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