Rubrik:
orientieren
26.01.2021
Autor:
Conny
Rubrik:
orientieren
26.01.2021
Im Herbst letzten Jahres fiel bei meinen Großeltern die Entscheidung: Sie werden ins Pflegeheim ziehen. Nach mehr als vierzig Jahren in ihrer Wohnung ging es einfach nicht mehr alleine. Dieser Schritt fiel ihnen nicht leicht, aber er war notwendig.
Da sehr kurzfristig ein Heimplatz für sie gefunden wurde, zogen sie von einer auf die andere Woche aus. Seitdem stand die Wohnung leer. Ein paar ihrer Möbel konnten sie mitnehmen, doch das meiste blieb zurück. Schnell war klar, dass wir all den angesammelten Dingen nicht selbst Herr werden können. Deshalb engagierte mein Onkel eine Firma, die auf Haushaltsauflösungen spezialisiert ist. Bevor diese jedoch zur Tat schritt, hatten wir als Familie noch einige Wochen Zeit, um uns in der Wohnung umzuschauen und uns im wahrsten Sinne des Wortes zu bedienen. Immer wieder betonte meine Großmutter, dass wir uns alles mitnehmen sollten, was uns gefällt, bevor es auf dem Müll landet. Die Wohnung war in dieser Zeit wie ein Flohmarkt. Lange Nachmittage verbrachte ich hier wühlend und kramend mit meiner Freundin, meinen Eltern oder allein. Es gab viele Fotoalben von meinen Großeltern, die wir natürlich mit nach Hause nahmen. Mein Opa war ein akribischer Sammler von Ratgebern und Reiseführern. Ein paar Titel, die ich mir mitnahm: „Fotokniffe“, „Reisebuch DDR“, „Hallesche Straßenbilder 1931-1939“ und das Buch „Kochen“ vom Verlag für die Frau. Außerdem sicherte ich mir eine Mini-DV-Kamera sowie einen mobilen Kassetten-Spieler. Meine Freundin nahm die Pflanzen und Sammeltassen meiner Oma an sich.
Kurz vor dem Räumungstermin stieß ich glücklicherweise noch auf eine Kiste mit sehr alten Fotos und schaute plötzlich in Gesichter, die mir vollkommen fremd erschienen. Das waren Aufnahmen aus den 1910er Jahren von den Verwandten meiner Oma. Erst auf späteren Bildern aus den 1930er Jahren erkannte ich unter den Kindern auf den Fotos ihr Gesicht wieder.
Am Tag der Räumung war ich ebenfalls anwesend. Fünf Personen arbeiteten daran, die Wohnung restlos zu leeren. Schränke und Regale wurden für den Sperrmüll zerlegt, Brett für Brett aus der Wohnung heraus transportiert. Ein Fachmann für Altpapier und Bücher packte mit den Sammlungen meines Opas zwei PKWs randvoll. Mit den Teppichböden wurde auch der letzte Rest Gemütlichkeit herausgeschnitten. Nach vollendeter Arbeit erkannte ich die Wohnung kaum wieder. Als ich hinter mir die Tür abschloss, traf ich die ehemalige Nachbarin meiner Großeltern, die mich mit lieben Grüßen an die beiden beauftragte.
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