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Von den (fehlenden) Praxiserfahrungen im Studium – Teil 1

Ein Porträt-Foto von Maril

Autor:
Maril

Rubrik:
studium

03.02.2023

Nach vier Semestern Vorklinik, in denen ich eigentlich nur Grundlagen der Anatomie, Physiologie, Biochemie und sonstiger Basisnaturwissenschaften gebüffelt habe, freute ich mich schon auf die verheißungsvollen Semester der Klinik. Endlich würde ich das machen, wofür man Medizin studiert! Endlich mal mit Patient*innen reden, sie untersuchen, ihnen womöglich sogar helfen. Dafür brauche ich die Grundlagen aus der Vorklinik natürlich, aber vielleicht nicht in dem Ausmaß, in dem ich das erwartet hätte. Denn hätte man mich nach dem Physikum, d.h. nach dem 1. Staatsexamen, einfach auf Patient*innen losgelassen, dann wäre das keine wirklich sinnvolle Erfahrung gewesen – für keine Seite.

Ich kann bis jetzt nicht wirklich Beschwerden einordnen und kenne nur ein paar ausgewählte Krankheitsbilder, die in der Vorklinik als Beispiel dienten oder zu denen ich privat recherchiert habe. Zudem habe ich von den meisten diagnostischen Tests und Geräten keine Ahnung. Mein Kontakt mit Patient*innen beschränkt sich auf drei Monate Pflegepraktikum und den Kurs „Einführung in die klinische Medizin“, in dem meine Kommiliton*innen und ich mehr oder weniger nur auf den verschiedenen Stationen des Uniklinikums herumgeführt wurden. Ich kann mich also mit Patient*innen unterhalten. Und das war’s dann gefühlt auch wieder. Nach meinem Gesprächsführungskurs im 3. und 4. Semester könnte ich vermutlich auch in einer Stunde Gespräch eine recht ausführliche Anamnese erstellen. Empathische und strukturierte Gesprächsführung ist natürlich eine immens bedeutende Fähigkeit, die aber im normalen Klinikalltag nicht immer anzuwenden ist.

Klar, die Anamnese ist immer noch das wichtigste Instrument der Mediziner*innen, aber fast niemand hat die Zeit für eine derart ausführliche Erhebung. Um sich ein vollständiges Bild von einer Person zu machen, sollte man eigentlich zu jeder Anamneseart die wichtigsten Punkte erfragen: Jetztanamnese (d.h. aktuelle Beschwerden und Situation), Eigenanamnese (d.h. der allgemeine medizinische Zustand inkl. durchgemachte Kinderkrankheiten, Vorerkrankungen, Allergien und allg. Impfstatus), Familienanamnese (d.h. Erkrankungen und evtl. Todesursachen von Eltern, Großeltern, Geschwistern und Kindern), vegetative Anamnese (d.h. wichtige Körpermaße und -funktionen wie z.B. Gewicht und Größe, Essgewohnheiten und Durst, Schlaf oder Menstruation), Sucht und Genussmittelanamnese, Sexualanamnese, Medikamentenanamnese sowie Reise-, Sozial- und Berufsanamnese. Wir Medizinstudent*innen im 5. Semester erfragen mit dem Anamnesebogen in der Hand natürlich jedes Detail, da wir mit unserem doch begrenzten klinischen Wissen die Symptome und Medikamente sowieso kaum einordnen können. Dementsprechend können wir aber bei Verdacht auf eine bestimmte Erkrankung auch nicht gezielt nachfragen oder vergessen eigentliche essenziell wichtige Fragen, gerade wenn kein Spickzettel zur Hand ist. Im Verlauf des klinischen Abschnitts des Studiums werden wir das immer besser lernen.

Dennoch ist es seltsames Gefühl, vor einem Patienten zu stehen und ihm sagen zu müssen, dass man ihm nach fünf Semestern Studium nicht wirklich mehr zu seiner Krankheit sagen kann, als er vermutlich sowieso schon weiß.