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Master live: Im Archiv

Foto von abi>> Blogger Ferdinand

Autor:
Ferdinand

Rubrik:
studium

01.02.2022

Derzeit schreibe ich meine Masterarbeit zur Übersetzung von Gedichten des Lyrikers Ivan Blatny ins Deutsche. Ivan Blatny, 1919 in Brünn geboren, war ein bekannter Lyriker, der 1948 nach England emigrierte und dort ab 1954 bis zu seinem Lebensende in verschiedenen psychiatrischen Einrichtungen lebte. Ein Schriftsteller blieb er jedoch auch im Exil, er schrieb Tag und Nacht.

In meiner Masterarbeit konzentriere ich mich auf die Übersetzung der Sammlung „Hilfsschule Bixley“, doch gibt es noch so viele weitere, unveröffentlichte Gedichte, dass ich mich vor kurzem – eher aus Interesse als für die Zwecke meiner Masterarbeit – ins Tschechische Literaturarchiv aufmachte, denn hier, so hatte ich gelesen, gebe es bis zu 280.000 noch unveröffentlichte Verse Blatnys. Und dass ich nur fünf Minuten vom Archiv entfernt wohne, machte die Entscheidung noch leichter.

Betritt man im Literaturarchiv den Vorraum des Studierzimmers, bekommt man jedoch alles andere als den Eindruck, an einem bedeutsamen Ort zu sein, an dem die literarischen Schätze eines ganzen Landes lagern. Bananenkisten – teilweise leer, teilweise mit bunten Buchrücken darin – stehen wild übereinander getürmt überall umher. Große, graue Karteischränke stehen an den Wänden, Staub liegt in der Luft. Doch wenn man aus dem Fenster blickt, erhascht man einen der wohl atemberaubendsten Blicke über Prag – denn das Literaturarchiv befindet sich im Strahov-Kloster auf dem Hügel Petrin, von dem man einen wunderbaren Rundumblick über die tschechische Hauptstadt hat.

Hinter einem Schreibtisch lächelt mir eine Dame zu. Als ich ihr sage, dass ich für Blatny komme, weiß sie sofort Bescheid, da ich vorher gemeldet hatte, welcher Teil des Nachlasses mich interessiert. Einige Formulare und Unterschriften später, trage ich bereits weiße Stoffhandschuhe und sitze im Studiersaal des Archivs, unter Stuck und imposanten Wandbildern. Und tatsächlich halte ich Ivan Blatnys Handschriften in den Händen. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen.

Als erstes widme ich mich den Handschriften der „Hilfsschule Bixley“. Diese Gedichte, die ich mittlerweile so gut kenne, nun im tschechischen Original zu sehen (wenn auch nur als Kopien), ist beeindruckend. Noch beeindruckender ist aber der zweite Ordner. Ich hatte ihn zuvor vor allem aufgrund seines deutschen Namens ausgewählt, der mir in der langen Liste an Archivmaterial aufgefallen war: „Der Dichter am Aborte in der Nacht“ (Blatny schrieb oft abends auf der Toilette). Ich lese und lese, staune und staune, fotografiere und fotografiere, bis mich die endlosen Seiten mit genialen Versen zu erschlagen beginnen, die Schließzeit des Archivs näher rückt und ich die beiden Ordner zurückgebe, die weißen Handschuhe ablege und mich auf den fünfminütigen Heimweg mache.

Blatnys Lyrik sehe ich nun ein wenig mit anderen Augen. Ebenso wie das Literaturarchiv, welches auf meiner Spazierroute liegt. Hier werde ich sicher einmal wieder vorbeischauen.