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Medizin studieren: Gesundes Desinteresse

Ein Porträt-Foto von Maril

Autor:
Maril

Rubrik:
studium

09.04.2021

Das Wort „Desinteresse“ wird im allgemeinen Sprachgebrauch eher negativ verwendet. Ich begegne jedenfalls lieber einem interessierten als einem desinteressierten Menschen. Da ich in den Semesterferien zu Hause wohne und das Dorfleben in vollen Zügen miterlebe, bin ich geneigt dieses Prinzip zu überdenken. Es ist leider nicht nur ein Klischee, dass auf dem Dorf Klatsch und Tratsch dazugehör. Wenn Frau S. zu ihrer Freundin Frau M. zum Kaffeetrinken geht, dann weiß man, dass jedes Wort, das in der letzten Woche bei Frau M. in der Bäckerei  gewechselt wurde, nun auch Frau S. bekannt ist. Das ist natürlich ein rein fiktives Szenario, doch es illustriert ganz gut, wie das soziale Leben in einem Dorf funktioniert – zumindest meiner Erfahrung nach. Ich glaube auch nicht, dass das immer etwas Schlechtes sein muss. Und ich denke, dass es in einer gutbürgerlichen Vorstadtsiedlung nicht viel anders funktioniert. Menschen und ihre Geschichten sind scheinbar per se interessant.

Doch manchmal wünscht man sich dann doch, dass nicht jede Neuigkeit im eigenen Leben Gesprächsstoff für die Nachbarn ist. Natürlich erzählt man auch nicht alles von sich herum, das ist die erste Vorsichtsmaßnahme. Doch leider wird sich da auch viel zusammengereimt und dazu erfunden. Und manche Dinge kann man auch einfach nicht verstecken.

Durch mein Pflegepraktikum im Provinzkrankenhaus habe ich gemerkt, dass es aber doch manchmal ganz nützlich ist, wenn jeder jeden kennt. Fast jeden Patienten, um den ich mich im Verlauf meines Praktikums gekümmert habe, kannte ich – zumindest vom Sehen her. So besteht von Anfang an ein Vertrauensverhältnis zwischen den Patienten und mir. Die Leute sind entspannter, offener und erzählen mir von ihren Probleme – auch von Sachen, die sie „zu unwichtig für den Doktor“ halten. So hat es eine Patientin mal ausgedrückt. Doch genau diese Details können manchmal wichtig für die richtige Diagnose und Therapie sein. Es hilft auch, wenn ich mit den Patienten plaudere, vielleicht auch mal etwas von der Familie mitbringen, da momentan keine Besucher im Krankenhaus gestattet sind. Als Praktikantin habe ich für so etwas Zeit.

Dennoch ist es nicht immer ein Vorteil, den Patienten zu kennen. Nicht alle sind dankbar, wenn sie ein bekanntes Gesicht sehen. Manche verschließen sich auch, wenn sie dich, deine Familie oder deine Frisur nicht mögen. Dann beobachten sie jede deiner Bewegungen und erzählen alles weiter, was du falsch gemacht hast. Das trägt nicht gerade zum entspannten Arbeiten bei.

Also ja, manchmal wünsche ich mir, wenn ich so durch die Straßen meines Heimatdorfes laufe, dass nicht jede zweite Person, der ich begegne, meinen vollen Namen, meinen Abischnitt und meine Familie kennt.